Kein geringer Teil der in Keilschrift erhaltenen mesopotamischen Texte beschäftigt sich mit „Lebensweisheiten“. Neben literarischen Texten, die sich mit großen Fragen wie der nach dem Sinn des Lebens oder der Herkunft von Leiden („Theodizee-Frage“) befassen, stehen große Sammlungen lebensnäherer, volkstümlicherer Weisheiten in Form von Sprichwörtern oder Ratschlägen zur erfolgreichen Lebens­führung. Erhalten haben uns dieses Wissen die mesopotamischen Gelehrten, die es auf großen Tafeln zusammenstellten. Wie keine zweite Textgattung führen uns die Texte zugleich die Unveränder­lichkeit der Probleme des menschlichen Alltags und die gewaltigen Unterschiede zwischen den alten Kulturen Mesopotamiens und unserer eigenen vor Augen. Sie sind allerdings häufig schwierig zu übersetzen und noch schwieriger zu verstehen, denn zum korrekten Verständnis eines Sprich­wortes ist die Kenntnis des kulturellen Hintergrundes unbedingt erforderlich. Der Sinn einer Redewendung geht zudem in vielen Fällen nicht direkt aus seiner Formulierung hervor, sondern wird vom Muttersprachler durch das Aufwachsen in seiner Gemeinschaft erlernt. Während etwa eine Feststellung wie „Aller Anfang ist schwer“ direkt verständlich ist, gilt dies für Aussagen wie „Stille Wasser sind tief“, „der Ton macht die Musik“ oder „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ nicht. Dasselbe gilt für überlieferte mesopotamische Lebens­weisheiten wie etwa „Der Eimer schwimmt auf dem Fluss“. Ein korrektes Verständnis bleibt daher oft unmöglich. 

Daneben finden sich jedoch durchaus Redensarten, die als universelle Weisheiten im Sprich­wortfundus vieler Kulturen erscheinen. So lehren uns die Babylonier: „Am Tage, da du dich bemühst, ist dein Gott mit dir; am Tage, da du dich nicht bemühst, ist dein Gott nicht mit dir“. Die zugrundeliegende Vorstellung findet sich auch in den alten Kulturen des klassischen Altertums und noch heute heißt es: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“. Am rechten Seitenrand finden Sie Keilschrift-Lückentext-Rätsel zu Sprichwörtern!

Unten sehen Sie die Kopie einer zweisprachigen Sprichwortsammlung. Auf der linken Tafelseite finden sich sumerische Sprichwörter, auf der rechten Seite deren babylonische Übersetzungen. In Z. 9 lesen wir auf babylonisch eine Lebensweisheit, die unserer Auffassung eher fern steht:

ibrūtu ša ūmakkal, kinattūtu ša darâti

„Freundschaften währen einen Tag, Geschäftsbeziehungen für immer.“

Das darauffolgende Sprichwort kommt zu einem anderen Schluss. Dort heißt es: „Wo Geschäftsbeziehungen sind, gibt es Streit“.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Mesopotamische Sprichwortsammlung
Kopie einer mesopotamischen Sprichwortsammlung